Deine Wahrheit oder meine?!

Ich war heute beim Coiffeur meines Vertrauens. Nachdem wir die Tagesthemen, die Misere der Selbständigen, die einfach keine Entschädigungen bekommen und auch die lustigen Fragen der Beamten im Bereich der Kultur («Ihr könnt nicht von Null auf Hundert? Ich habt kein Programm? Aber ihr habt wenigstens ein Schutzkonzept? Wie jetzt?!») durch hatten, kamen wir auf das Phänomen der Verschwörungstheorien zu sprechen – sofern man das Nuscheln hinter Masken als Sprechen bezeichnen kann. Nun, da habe ich so meinen eigenen Ansatz, im Umgang mit Verschwörungstheorien, selbstverständlich.

Kennt ihr das auch? Je älter ich werde, umso weniger absolute Aussagen (die unverzichtbare Basis jeder Verschwörungstheorie), umso weniger definitive Sätze kann ich machen und sie dann so stehen lassen. Was mich natürlich schon mal davor schützt, eine Verschwörungstheorie zum besten zu geben. Und wenn doch mal ein absoluter Satz fällt, bereue ich ihn sogleich. Oder auch erst später. Herrgott. Ich bin nicht zögerlich. Aber schon so oft wissentlich auf den Kopf gefallen, dass ich fast zwingend davon ausgehen muss, dass sich in geäusserte  Aussagen zwangsläufig Denkfehler einschleichen. Weil ich eben ausserstande bin, an alles zu denken. Und einfach zu abgelenkt bin, wenn ich mich gerne reden höre.
Und dann doch zu oft erlebt, wie ich mich auf Behauptungen versteife und schon beim Proklamieren merke, dass sie nicht zwingend Hand und Fuss haben. Und dann bitter bereut. Dann zugegeben. Und das Gesicht ein Stück weit verloren. Ich lag schon so oft falsch. Nicht immer. Aber selbst dann blieb ich zumindest verdächtig: mein Hirn zu klein, die Zeit und auch meine Beine zu kurz…

Es geht aber noch weiter.

Ich habe dieses Problem nicht nur mit mir. Sondern mit allem und jedem, der, die oder das daherkommt wie «Hey, ich weiss, wie’s geht! Ich weiss, wie’s ist.» Nicht, dass ich es nicht glauben wollte, etwa, weil ich von Natur aus misstrauisch wäre. Im Gegenteil. Ich glaubte es noch so gerne, um mich daran festzuhalten, am endlich gefundene Fünkchen Wahrheit, Echtheit, Jetztheit.  Allein, mir fällt es schwer zu glauben. Nach 57 Jahren sind zu viele Illusionen geplatzt und der vermeintlichen Realität gewichen, zu viele Götter demaskiert, zu viele Idole mit Dreck am Stecken ad acta gelegt und zu viele News-Headlines der Lüge überführt. Heute haben für mich Erkenntnisse stets etwas Temporäres, zum Festklammern wie an einer Liane, mit der man sich zur nächsten Wahrheit schwingt, bevor sich diese auflöst…

Verschwörungstheorie: Wir überlisten uns selbst.

Ob der liebe Gott oder die Illuminati, Carlos Castaneda, 9/11, Irak I und II, Trump, ob Crypto- und andere leaks, Corona und Bill Gates oder irgendetwas anderes tatsächlich wahr ist oder nicht – jeder kocht damit sein eigenes Süppchen. Weil es zu schwer ist oder zu wichtig scheint, als dass wir die Finger davon lassen könnten. Zu ungeheuerlich sind die Zutaten, als dass man sie einfach unzubereitet lassen könnte. Alles muss eingeordnet werden, «Sinn» ergeben oder sich sogar reimen, weil es uns sonst keine Ruhe lässt. Und dabei spielt es offenbar überhaupt keine Rolle, dass wir von den einzelnen Dingen gar nicht genug wissen, um sie fachgerecht einordnen zu können. Denn wir können uns locker überlisten: Die Lücken zwischen den einzelnen Teilen füllen wir einfach mit Spekulation – mit Theorien die einen, mit Statistiken die anderen. Wie die Forscher in Jurassic Park, die fehlende DNA-Sequenzen mit irgendwas füllen und so wahre Monster erschaffen.

Wenn ich dann aber den Leuten zuhöre, wie sie sich selbst zu überzeugen versuchen, obwohl sie eben noch um Gewissheit rangen und sie mir im nächsten Augenblick ihr Gebräu als Wahrheit verkaufen, dann wird mir schwindelig. Und ich denke: Hören sie sich zu? Können Sie zwischen Kausalität und Koinzidenz unterscheiden? Merken sie denn nicht selbst, wie sie sich anhören und wie die Welt, an die wir glaubten, sich bald restlos aufgelöst haben wird? Ist dies das Strampeln gegen das unvermeidliche Versinken im Treibsand einer Fake-Welt? Hat unsere Gesellschaft über Generationen den Fake selbst geschaffen? Oder war es schon immer ein Fake? Macht das einen Unterschied?

Alles halb so schlimm.

Zugegeben, das ist alles ein wenig drastisch ausgedrückt. In den meisten Fällen geht es mir einfach nur auf den Sack, wenn mir jemand mit der Wasserverdrängung eines Ozeanriesen seine Realität aufzwingt. Ich kann nicht verstehen, wie mir jemand allen Ernstes seine Welt als die einzig mögliche aller Welten verkaufen will. Ich kann nicht verstehen, aber nachfühlen, dass auf die Dauer kein Zustand sein kann, alles in Frage zu stellen. Aber das ist auch nicht nötig. Es reichte, wenn wir bei allem, was wir sagen und tun, zumindest die Möglichkeit einräumten, dass es auch noch ganz anders sein könnte. Das nenne ich «dem Zweifel einen Stuhl am Tisch freilassen». Der Vorteil: Man radikalisiert seine Unwissenheit nicht.

Als ich mich für die rote Pille entschied.

Das ist schon länger her. Und im Rückblick kann ich sagen, dass ich mich zum einen geirrt und zum anderen verschätzt habe. Geirrt, weil ich mir von der Pille Wahrheit und Weisheit versprochen habe. Ich habe nicht damit gerechnet, dass sie nur die Voraussetzung dafür schaffte: Zweifel.
Und verschätzt, weil ich glaubte oder hoffte, dass in meinem Umfeld zumindest ein paar andere Seelen auch noch mit derartigen Zweifeln herumlaufen und ich mich mit ihnen austauschen könnte. Nun, ich suche noch.
So bleibt mir nur noch ein Gebiet, auf dem ich mit Gewissheit absolute Sätze von mir geben kann, nur noch ein Bereich, dem ich traue: meinen Gefühlen. «Das mag ich». «Ich liebe es, wenn…» .  «Ich freue mich auf dich.»

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Ein Gedanke zu „Deine Wahrheit oder meine?!“

  1. Hallo Stefan
    Ich wollte eigentlich nachsehen, ob die Domain tagebuch.ch schon besetzt ist und bin auf Deinen Text mit der roten Pille gestossen. Danke für den interessanten Beitrag.
    Deine Worte haben mich sehr schnell auf einer persönlichen Ebene angesprochen, denn ich bin auch einer, der die rote Pille intus hat. Ich glaube aber nicht, dass ich mich für die rote Pille entschlossen habe, sondern sie für mich. Die paar, aber wirklich nur ein paar, Wenigen die ich kenne die täglich mit dem Zweifel eine Runde Griechisch-Römisch austragen, trugen es stets in sich. Du bist der Erste, der eine bewusste Entscheidung andeutet.
    Die Formulierung “dem Zweifel einen Stuhl am Tisch freilassen” gefällt mir. Ich finde, damit triffst Du den Nagel auf den Kopf, denn er lässt dem Zweifel das gewisse Mass an Platz im Leben, sodass kein Ungleichgewicht entsteht.
    Ich persönlich denke, der Zweifel ist stets angebracht und hat mir im Leben immer wieder zusätzliche, neue Erkenntnisse gebracht. Gerne auch schmerzhafte. Es kommt ja bekanntlich stets anders, wenn man denkt (nicht von mir). Doch haben mir gerade die letzten Monate gezeigt, dass viele Menschen den Zweifel schlicht und einfach nicht aushalten. Sie möchten an der Hand genommen und durch das Elend ihres Lebens in eine bessere Zukunft geführt werden.
    Aber wahrscheinlich war das schon immer so. Es waren wohl früher die Propheten und Priester – heute sinds die Wissenschaftler bzw. Virologen. Wie sonst lässt sich dieser sektiererische Widerstand erklären, der einem entgegenbrandet, wenn man nur schon Fragen stellt. Man muss es nicht verstehen, man muss es glauben.
    Eigentlich möchte ich nicht allzu sehr in die Länge schweifen. Du bist immer noch auf der Suche nach Leuten, die den Zweifel in sich tragen? Heute hast Du jemanden gefunden.
    Herzliche Grüsse

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