Ganz privat? Wen kümmert ‘s?

«Ich schreibe nie etwas. Ich schaue nur.» Solches und ähnliches höre ich, wenn ich Facebook-Freunde in real life treffe. Ich kann dann meine Verwunderung kaum verbergen und frage, warum das so ist. «Ach, du schreibst so toll (???). Ich kann da nicht mithalten.» Öhm. Ich schreibe einfach. Und ich würde mich darüber freuen, wenn sich dann jemand ins Zeug legte oder auch nur ein paar Zeilen zurückschriebe.

Dass es inzwischen eine ganze Menge von Ich-schaue-nurs gibt, belegt meine Statistik: 38’470 Besuchende innerhalb eines Jahres (mehr als 58’000 insgesamt) haben offenbar knapp 140’000 Seiten (seit Beginn fast das Doppelte) angeschaut und vielleicht sogar gelesen. Ich wusste gar nicht, dass ich so viele Seiten habe. Aber ich weiss, dass diese Zahlen nichts sind im Vergleich zu wirklich wichtigen Seiten, zum Beispiel für Schminktipps und andere nützliche Dinge des Lebens.

«Erzählst du wirklich alles in deinem Online-Tagebuch?» ist eine leicht entsetzt gestellte Frage, die ich wohl deshalb dann und wann zu hören bekomme, weil ich meine Krebs-Geschichte hier zumindest auszugsweise ausgebreitet habe. Das ja, aber alles erzählen? Behüte, nein! Kampfstern Analytica hört mit! Da werde ich doch das eine oder andere für mich behalten. Schliesslich will ich nicht, dass mir irgendwann irgendwie irgendwelche Prozac-Präparate per FB-Inserat empfohlen werden. Ich bade das selbst aus, danke.

Wir geben mittlerweile so viel von uns preis, und das bei vollem Bewusstsein, sofern unser täglich Hamsterrad noch etwas davon übrig lässt. Wir hinterlassen überall Spuren und tun entsetzt, wenn sich jemand oder eine Maschine an unsere Fersen heftet. Wir machen bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit so viele Fotos von uns, von unseren Freunden und unserer Umgebung, dass wahrscheinlich auch die Maschinen nicht mehr mitkommen. Deshalb tun die dasselbe, was wir – in unserem überladenen Alltag – mit anderen Menschen und Sachverhalten machen: vereinfachen und schubladisieren. Um so etwas wie Verständnis für das Unfassbare herzustellen. Um Geschehnisse einzuordnen, die eigentlich nicht zu begreifen sind. Um uns nicht eingestehen zu müssen, dass uns das ganze entgleitet (oder wir es nie im Griff hatten). Um nicht einfach überwältigt zu werden, zum Beispiel vom Leben.

Wir geben mittlerweile so viel von uns preis, dass ich manchmal selbst nicht mehr weiss oder fühle, was wichtig ist und was nicht. Das kann unfassbar traurig machen. Oder federleicht. Denn was bedeutete schon ein Fehler, wenn wir nicht mehr wissen, was richtig und wichtig ist und womit wir den Lauf der Dinge im Grossen und Ganzen wirklich beeinflussen?

Draussen zirpen die Grillen. Und die Lichter am anderen Seeufer flimmern. Der Boden und das Wasser dazwischen strahlen wohl Wärme ab. Der Groll ist verzogen, die Zweifel sind beseitigt, eine Nacht nur, dann folgt der nächste Tag. Ich schreibe nie etwas. Ich schaue nur …?

Share

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert