Immer diese Bettgeschichten

Der Termin meines fünften Spital-Aufenthaltes in diesem Jahr rückt immer näher. Ein Gedanke nach dem anderen schiebt sich an meinem geistigen Auge vorbei. Etwa die Hälfte der Sätze beginnt mit «Was, wenn …?». Und es ist nicht einer schöner als der andere.

Vom letzten Eingriff konnte ich mich noch nicht ganz erholen. Die Nachfrage beim Arzt hat ergeben, dass es keine Blasenentzündung ist, die mich plagt. «Sie haben nur die Symptome einer Blasenentzündung.» Das ist etwa so, wie wenn dir dein Banker sagt, du seist nicht pleite, du hättest bloss kein Geld auf dem Konto.
Der nächste Eingriff wird vielleicht nochmal derselbe sein, wie der letzte. Es sei denn, sie hätten doch schon vorher alles erwischt. Man könne das aber nicht genau sagen, denn es sei gegen Ende des letzten Eingriffs «unübersichtlich» geworden. Wie auch immer. Sie werden mir wohl wieder an die 40 Liter Spüle durch die Blase jagen, bevor ich wieder nachhause darf. «Sicher ist sicher, angesichts der Aggressivität Ihres Krebses.» Man gönnt sich ja sonst nichts.

Die ganze Geschichte hat sehr viel nach oben gespült. Und mir gezeigt, dass ich bis anhin auf der gesunden Spitze des Eisbergs called life gelebt habe, undankbar wie ein Gummibärchen, naiv und unbeschwert wie eine Eintagsfliege. Und: Um mich herum, nah und fern, wird gestorben wie verrückt. Ich habe so viele Nachrichten bekommen von Menschen, die im selben Augenblick weitaus schlechtere Aussichten auf Genesung haben als ich, von Menschen, die einen lieben Menschen verlieren, von Menschen, die sich bei bester Gesundheit mit Gedanken an künftige Erkrankungen herumschlagen. Ich danke allen für die Anteilnahme und ihre Offenheit, für ihre guten Wünsche und den zugesprochenen Mut. Doch wenn wir den Tatsachen ins Auge sehen, dann eben allen. Auch jenen, dass draussen die Sonne scheint und viele liebe Menschen an uns denken, dass jeder Tag die Gelegenheit für ein Fest bietet.
Was ich auch realisiert habe: Seit zwölf Monaten läuft mein – im Zusammenhang mit der Unendlichkeit des WorldWideWeb betrachtet – unbedeutendes tagebuch.ch wieder. Die knapp 30’000 Besucher haben hier rund 120’000 Posts gelesen. Der weitaus grösste Anteil an Seitenaufrufen entfällt dabei auf bad news. Einerseits verständlich, andererseits betrüblich. Denn das Leben hier hat so viel mehr zu bieten. So überlege ich mir hier bei jedem neuen Beitrag, ob ich damit nicht bloss das Leid in der Welt vervielfältige, oder ob ich damit einen tröstlichen, manchmal sogar erheiternden Beitrag zu jemandes Leben leiste. Ich halte mich dann an die Zuschriften, in denen mir gedankt wird für die Offenheit und den Mut, das Thema Krebs (oder Krankheit ganz allgemein) so offensiv zu beschreiben.

Wir werden sehen, ob das so bleibt, wenn ich den nächsten Bescheid, die nächste Prognose bekomme. In ein paar Tagen. Nach dem nächsten Eingriff. Vor den Ausstellungsvorbereitungen für den ArtWalk in Bremgarten. Vor der neuen Saison meines geliebten Kellertheaters Winterthur. Bevor ich meinen Bestseller «Wie ich die Zitrone lieben lernte» schreibe und mein abendfüllendes Satire-Programm «Ehrlich gesagt» auf die Beine stelle. Vor allem, was ich nachher noch vorhabe.

Ich könnte jetzt Kette rauchen. Wenn es nicht genau das wäre, was mich umbrächte. Aber: Ich liebe. Also bin ich.

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18 Gedanken zu „Immer diese Bettgeschichten“

  1. du bist heute mein alltagsheld! – danke für die gedanken & deine offenheit, die mich zum denken anregen und meinen horizont öffnen & erweitern…
    alles gute, lieber stefan!!

  2. Lieber Stefan

    Ich besuche Dich heute das erste Mal auf dieser Seite. Und eigentlich habe ich nicht viel Zeit, obschon ich mir am Liebsten alles reinziehen würde, was Du schreibst… Ich mache nicht mit auf facebook aber möglicherweise habe ich alle Merkmale einer followerin.
    Besuch ist das Stichwort. Ich würde gerne morgen Donnerstag gegen Abend bei Dir/euch ganz kurz vorbeischauen auch wenn sich das sehr seltsam anhört, um etwas vorbeizubringen. Es liegt mir sehr am Herzen und falls niemand da sein sollte, würde ich einfach den Briefkasten reicher machen damit.
    Bitte schreib mir doch kurz, ob das OK ist. Ich check am Abend das Mail. Ich würde morgen so +/- 17h da sein.

    Liebe Grüsse

    Jacqueline Kandler-Guyot

  3. Lieber Stefan
    Danke für Deine Worte. Wenn ich schon keinen Kaffee trinke mit Dir, dann eben denke ich an Dich. Täglich!
    Weil es mir hilft. Total egoistisch. Hilft es auch Dir? Ich will es hoffen, gopferteli!
    Nanny

    1. Liebe Nanny, egoistisch ist gut. Und Kaffee auch. Ich bin manchmal (in letzter Zeit) einfach so eine unausstehliche Stinksocke. Und wenn ich das gerade nicht bin, dann jammer’ ich ‘rum. Gut, albern tue ich auch. Das sind dann jene Momente, die ich mit Freunden teile. Und ich teile mit Freuden einen Kaffeeplausch mit dir. Nach meiner nächsten Bettgeschichte, sobald mein Aktionsradius es wieder zulässt. Versprochen.

      Danke fürs ganz egoistisch an mich Denken. Es hilft. Alles Liebe | Stefan

  4. Lieber Stefan
    Wir kennen uns, aber nicht näher. Dein Blog, deine Geschichte und Gedanken, deine Offenheit, dein Schicksal, das alles berührt mich sehr. Ich habe das schon mal so erlebt mit einer sehr guten, jungen Bekannten. Es geht mir tief unter die Haut. Ich kann dir nur meine besten, liebevollen Grüsse senden, all meine Fingerkuppen drücken und dir wünschen, dass du noch viele deiner Projekte verwirklichen kannst. Alles Gute
    Wuwi

  5. Lieber Stefan

    Tja was wenn……. Das Gedanken-Karussell dreht sich so irgendwann immer schneller. Ich glaube wir kriegen die Kraft von sonst wo, um diese Zeit so gut wie möglich durchzustehen.
    Danke für Deine Worte.
    Du hast sooooo viele gute Menschen an Deiner Seite. 30’000 Besucher – und du fragtest mich mal, ob das überhaupt irgendwer interessiert. Ist das genug Bestätigung? ;-).
    Ich denk an Dich.
    Herzlichst
    Renate

    1. Karussell ist gut, liebe Renate. Da traben ein paar Gedanken, munter wie kleine Pferdchen, im Kreis herum. Dann und wann kommt das Feuerwehr-Auto vorbei usw. …

      Danke für deine Nachricht. Einatmen – ausatmen … | LG | Stefan

  6. Stefan
    You really made my Day! Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie mich Deine Offenheit, Deine klare Sprache und Deine (Bett)Geschichte zu tiefst berührt. Ich wünschte ich hätte 3 Wünsche frei….einen würde ich Dir kredenzen. 100Pro. Da aber der Wünschelprinz nicht zugegen ist, sende ich Dir einfach mal so hundert und mehr Gedanken. Gute. Natürlich. Alles Liebe. TheMa

    1. Liebe TheMa 😉
      Ja, die Prinzel sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Allein, unser Glaube an sie scheint ihnen zu fehlen. Haben wir sie auf diese Weise wegrationalisiert. So rational, wie wir nun mal zu sein scheinen. Ich danke dir für die guten Gedanken, liebe Grüsse | Stefan

  7. Lieber Stefan
    Bis heute habe ich mich mit aufmunternden Sprüchen und Likes an Dich gewandt. Aber jetzt sage ich: Respekt, wie Du mit dem Krebs umgehst. Ich bin eine Überlebende und habe zwei liebe Freundinnen bis zuletzt begleitet. Ich weiss folglich wovon Du redest und schreibst und ich wünsche Dir und Deiner Familie (inkl. Döchti) viel Kraft. Wichtig ist, dass der Humor nicht flöten geht!
    Herzlich Rose

    1. Liebe Rose, danke für deine Zeilen. Ja, meine Familie trägt mit, auch wenn sie zur Zeit ganz viele andere Sachen um die Ohren haben. Dotterli (not so little any more) hangelt sich von Prüfung zu Prüfung und scheint von alledem nur das Allernötigste mitzubekommen. Recht hat sie. Schliesslich muss sie ihr Leben in den Griff bekommen, nicht meines.
      Ich bin zäh wie Lederstrumpf und möchte nicht enden, wie der letzte Mohikaner. Der Hepathitis vor vier Jahren habe ich gelassen ins Stabilo-Boss-gelbe Gesicht gelacht. Nun liegt der Fall aber ein wenig anders, und ich schaue von Tag zu Tag, auch wenn sich die Projekte, für die ich Monate brauchen werde, mehren.

      Mit Humor gegen Tumor (für diesen Spruch hätte mich mein früherer Textervater gelyncht) ist die Devise. Oder so ähnlich.

      Danke für deine Zeilen, alles Liebe | Stefan

  8. Super geschrieben. Danke dir für alle deine gescheiten Gedanken und deine Offenheit. Ich wünsche mir und dir sehr, dass du bald wieder ganz gesund auf der Eisbergspitze herumkletterst.
    Liebe Grüsse, Barbara

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