Jahrestag

Heute vor einem Jahr bin ich aus vollem Lauf gegen die Wand gelaufen. Im übertragenen Sinn. Und von einer Nierenkolik in die Knie gezwungen worden, buchstäblich. Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit und abgefüllt bis oben hin mit zahlreichen interessanten Derivaten, die mir in der Permanence verabreicht wurden (bis ich endlich Ruhe gab) im Schlepptau meiner Familie wieder in die grosse Halle des HB Zürich trat, hing da dieses Swarovski-Glitzerdings kopfüber und zeigte mir seine Spektral- und noch ein paar bis anhin mir unbekannte andere Farben.

Es folgte ein Jahr der Ungewissheit mit ein paar Fakten: Fünfzig Tumore, fünf Vollnarkosen (die ersten meines Lebens), fünf Eingriffe und fünf Phasen, in denen ich mich wieder aufrappeln durfte. Zwischendurch hatte ich eine Krebs-Therapie, nahm mehr schlecht als recht an einer Gruppenausstellung teil und versuchte, so oft wie möglich bei der Arbeit zu erscheinen (in der Hoffnung, man möge mich dort dafür loben). Aber die meiste Zeit sass ich zuhause und stellte mich der Geduldsprobe. Und meinem Hirn, das sich einfach nicht dem neuen (Schnecken-)Tempo, der Gelassenheit und der Musse hingeben wollte.

Inzwischen kenne ich jeden passionierten Laubbläser im Quartier, weiss, mit welchen Hightech-Waffen er der Natur zu Leibe rückt, wer wann wo einkaufen geht und warum dann und wann in der Nachbarschaft die Teller fliegen, welche Kindchen partout nicht der Pubertät entwachsen und Verantwortung für die Hausarbeit übernehmen wollen. Und noch ein paar andere Dinge, die die Menschheit nicht zu wissen braucht.

Heute denke ich wieder an den Swarovski-Baum, sehe die Leute mehr denn je rennen, bepackt mit Einkaufstaschen, gefüllt mit Dingen, die nachher wieder in irgendeinem Meer schwimmen, sehe Hamsterräder, geschmückt mit Christbaumkugeln und brennenden Kerzchen darunter, damit wir auch ja nicht auf die Idee kommen, stehenzubleiben. Und bin nur wenig schlauer als zuvor. Und wäre mir zwischendurch nicht sterbenslangweilig gewesen, ich hätte mich nicht weiter für Kulturpolitik engagiert und wäre heute nicht Teil einer Bewegung, deren Aufbruchstimmung ich in vollen Zügen geniesse.

Nun, in einer Woche steht die nächste Tumor-Kontrolle an. Das Bibbern hat wieder begonnen, wie ein leises Hintergrund-Brummen, das mehr und mehr meiner Aufmerksamkeit fordert und all die schönen Dinge, die mir passieren, übertönt. Was bin ich doch für ein Angsthase geworden! Die verbleibende Zeit lässt sich nicht berechnen. Nur leben.

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5 Gedanken zu „Jahrestag“

  1. Welche Bewegung hat denn so eine schöne Aufbruchstimmung?
    Gegen Angst vor einem zukünftigen Ereignis hilft bei mir Ablenkung.

    Ansonsten, nach Grönemeyer: Es gibt für nichts ne Garantie, es gibt nur, jetzt oder nie.

    1. Liebe Fatima,
      ich habe zur Zeit viel Ablenkung 😉 Die Aufbruchstimmung entsteht durch Menschen und Institutionen, die sich kulturpolitisch formieren. Endlich. Und ganz gross. Jetzt, nicht nie.

  2. Lieber Stefan
    Ich kenne dich nicht, aber ich lese regelmässig deine Tagebuchaufzeichnungen. Diesmal wage ich einen bescheidenen Kommentar.
    Deine Situation ist SEHR belastend. Aber bedenke, du kannst immer noch zur Kontrolle. Mein Mann (letztes Jahr) und meine Tochter (gest. Sept. 2017, 32 Jahre alt) würden sehr gerne zur Kontrolle gehen. Geniesse jeden Moment des Lebens! Das gilt natürlich nur, falls auch die Lebensqualität stimmt. Das Leben ist wie russisches Roulette.
    Viel Glück!! Ruth

    1. Liebe Ruth,

      mein herzliches Beileid.

      Ich weiss, was du meinst. Und mir blieb bei deinen Zeilen auch prompt der Klos im Halse stecken. Dankbarkeit und Demut sind Wesenszüge, die nur nach und nach zum Vorschein kommen. Ich übe noch. Ebenso mit der Lebensqualität. Diese hat doch arg gelitten.

      Ich hoffe, du bist guter Dinge und hast viele gute Tage. Danke für deine Zeilen.

      Liebe Grüsse | Stefan

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