Ohne Ich keine Heimat

ichterbahnJe weniger ich mit mir anzufangen weiss, auch, weil ich gar nicht weiss, wer ich bin, was mich ausmacht, umso wichtiger wird das Wir. Wenn ich mich aber mit dem Wir beschäftige, bevor ich das Ich – wenigstens vorläufig – geklärt und festgestellt habe, dass es ok ist, wenn ich zur Beta-Version von mir stehen kann, dann ist das Wir nichts wert. Es bleibt diffus. Es ist nur dazu da, mein fehlendes Ich zu kompensieren. Es dient als Ersatz-Orientierung.

Das erklärt auch, warum für das Wir die Feindbilder so zahlreich sind und es sich laufend ändern kann, ja sogar muss. Wer für mich ist, gehört zum Wir. Wer mich in Frage stellt, tut dies zwar zurecht, wird aber sogleich von diesem Wir ausgeschlossen.

Dieses Wir-Gefühl soll eine Heimat bieten. Dieses Wir zu erhärten, fällt umso leichter, wenn Menschen hierher kommen, die offensichtlich fremd sind, andere Ansichten und Perspektiven, andere Massstäbe und Vorlieben haben, wenn Menschen hierherkommen, die man zum Feindbild machen kann. Sie sind das Sie als Gegensatz zum Wir. All diese Ein- und Ausschlüsse, die sich verändernden Fronten bleiben natürlich auch meinem angeknacksten Ich nicht verborgen. Es merkt, dass das Wir nicht stark genug ist, um dauerhaft Halt zu geben.

Wenn ich mich mit meinem Ich nicht anfreunden kann und das Wir auch nicht den nötigen Halt verspricht (und auch nicht halten kann), muss ich zum nächst grösseren greifen: zur Heimat. Zu einer Definition davon. Mit allem, was sie einschliesst. Und eben auch allem, was sie ausschliesst. Dafür brauche ich Grenzen. Ohne geht gar nicht. So erhält Heimat Konturen, an denen ich mich orientieren kann, mich orientieren muss. Weil ich ja sonst nichts, vor allem kein Ich habe, das mir Halt böte.

Je schwächer mein Ich, umso mehr brauche ich Heimat. Je mehr Heimat ich brauche, umso mehr Grenzen brauche ich. Und umso mehr grenze ich andere aus.
Im Umkehrschluss ist ein starkes Ich überall zuhause, ein weltoffenes Herz. Und es kann sich auf die Suche machen nach einem möglichen, vielfältigen, lebendigen, widersprüchlichen und spannenden, aber auch liebevoll neugierigen Wir.

Das ist meine Heimat.

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