#systemrelevant

Corona hat eine ganz hässliche Seite unserer Gesellschaft ans Tageslicht gebracht. Und ich spreche nicht von den dünnhäutigen Menschen, die allmählich an ihre Grenzen kommen, zeigen, wie es um ihr Nervenkostüm in Wirklichkeit bestellt ist. Und auch nicht von den Leugnern, die wie Spaltpilze zwischen all den anderen Betroffenen aus dem Boden schiessen. Ich spreche von den Menschen, die das Wort #systemrelevant in den Mund nehmen.

Sparta lebt.

Die Diskussion darum, was #systemrelevant ist, und was nicht, erinnert mich an die Geschichte der Spartaner, die aus «Platzmangel» (das Boot ist voll) auf ihrem Peleponnes seinerzeit eine barbarische Geburtenkontrolle – nach der Geburt – rigoros durchzogen: Die Mütter mussten ihre Neugeborenen von einem Gremium begutachten lassen. Die Säuglinge wurden gewogen… und wenn sie als zu leicht befunden wurden, warf man sie über die Klippe. Der Zusammenhang scheint an den Haaren herbeigezogen, der Vergleich allzu drastisch. Dennoch läuft hier etwas ganz ähnliches ab.

Welches Leben ist relevant?

Was bei den Spartanern «zu wenig Platz» für Menschen, die nicht ihren Idealen entsprachen, ist heute der Glaube, nicht allen helfen zu können, die durch Corona in Not geraten sind. Obwohl es dafür genügend Mittel gäbe. Und da sich dieser Glaubenssatz durchsetzt, weil er oft genug wiederholt wird, muss ausgesiebt werden. Also muss ein Kriterium her, um argumentieren zu können, warum die einen es wert sein sollen, von unserer Gesellschaft unterstützt zu werden und andere nicht. Also muss die «Systemrelevanz» her, die ursprünglich etwas ganz anderes bezeichnete.

Definition des Tages-Anzeiger-Glossars vom 31.08.20:

Systemrelevant

sind nicht nur Banken, wie wir jetzt wissen. Das Pflegepersonal, Verkaufspersonal, die Müllabfuhr gehören dazu, andere Berufsgattungen auch. Ihr Kennzeichen: Die meisten davon sind auf der Lohnskala weit unten angesiedelt. Systemrelevant sollen auch Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten sein. Dies hat zumindest der bekannte Virologe Christian Drosten so gesagt.

Ich stelle die Unverzichtbarkeit von Pflegepersonal und Ärzteschaft keineswegs in Frage. Aber abgesehen davon, dass diese jetzt wohl kaum mehr bekommen als ein freundliches Klatschen, sind alle anderen ebenso #systemrelevant, ja, sogar die Kranken. Sonst bräuchte es das Spitalpersonal ja gar nicht.

Wenn du nicht passt, vergiss es.

Ich erinnere mich an einen Arbeitskollegen. Ich begann damals eine kaufmännische Lehre. Er hatte nur einen Aushilfsjob. Aber meinem Arbeitgeber war aufgefallen, wie clever Nick war, und bot ihm eine bessere Stelle, etwas Festes mit mehr Stellenprozenten an. Er lehnte ab. Ich fragte ihn, wieso er den Job nicht wolle. Er sagte, dass er dann nicht mehr genug Zeit für seine Kunst hätte und dass er viel lieber an die Kunsthochschule wollte. Als ich ihn mal zuhause besuchte, zeigte mir Nick seine Skizzen, Zeichnungen und Bilder. Sie waren – wenn auch oftmals noch unfertig – umwerfend. Nicht nur in technischer Hinsicht. Sie berührten. Alle.
Kurz darauf bewarb er sich an der Kunsthochschule. Er wurde nicht angenommen und darüber wohl viel betrübter, als irgend jemand ahnen konnte.
Ihn schmerzte die Begründung zu seiner Ablehnung: Er hätte sich schon viel zu weit entwickelt. Er meinte, sie wollten wohl Leute, die sie formen konnten. Und er passte nicht ins Schema. Ein paar Tage später sprang er vor einen Zug.

Wenn du denkst, das sei heute anders, kann es sein, dass du eine herbe Enttäuschung erlebst. Als ich vor Jahren am Bewerbungstag einer angesehenen Ballettschule zufällig neben dem Schulleiter stand, bekam ich mit, was er – einen flüchtigen, abschätzigen Blick auf die Bewerberinnen werfend – zu seiner Assistentin sagte: «Bringt mir Frischfleisch, das ich formen kann.» Für ihn waren also nur all jene #systemrelevant, die als «Ausgangsmaterial» dazu geeignet waren, ihn zu seinem Ziel zu führen. Dies sind sicherlich zwei offensichtliche Beispiele dafür, dass immer irgend jemand darüber nachdenkt und urteilt, wer #systemrelevant ist und wer nicht.

Das nicht offensichtliche.

In meinen Augen ist aber viel schlimmer, was sich in dieser Hinsicht nicht so offensichtlich abspielt. Eben bei den Beratungen darüber, wer in den Genuss von Corona-Hilfen kommen soll. Da nicht allen geholfen werden soll, weil – so die Behauptung – die dadurch aufgetürmten Schulden noch Generationen nach uns belasten würden, beginnen Politik und Verwaltung, aber auch die Presse und deren Öffentlichkeit aus ihrer jeweiligen Perspektive Berufszweige und Gesellschaftsschichten nach Systemrelevanz/-irrelevanz einzuteilen. Und sie tun damit etwas, was sich die Gesellschaft überhaupt nicht leisten kann, wenn sie den Gesellschaftsvertrag nicht aufkünden will. Denn wir werten damit nicht nur bestimmte Menschen/Berufe auf, sondern alle anderen ab. Ist der Busfahrer, der uns auch in schweren Zeiten und trotz gesundheitlichem Risiko von A nach B befördert, etwa mehr wert als die selbstständige Therapeutin, die Kassiererin mehr als ein Flötist? Tragen nicht alle dazu bei, dass wir die aktuelle Situation irgendwie gar nicht so schlecht überstehen? Zumal wir in einer Demokratie voller Freiwilligkeit leben, nicht in einer Diktatur, in der die Repression die Regel ist. Das Zusammenleben in dieser Corona-Ausnahme würde gar nicht funktionieren, wenn wir nicht mehr oder weniger freiwillig und mehr oder weniger diszipliniert mitmachen und verzichten, also auch Einbussen erleiden würden.

So gesehen sind wir alle #systemrelevant.

Share

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert