Zugegeben: Mir war nicht nach feiern zumute. Aus verschiedenen Gründen. Hauptsächlich, weil ich nicht dort stehe, wo ich stehen möchte. Bezüglich meiner persönlichen Entwicklung. Und auch im Bezug auf meine Gefühlslage. Ich dachte: «Mit 60 stehst du über gewissen Dingen.» Ich habe Altersmilde erwartet. Ich dachte immer, ich wäre mehr der Wandersmann, weniger der Gipfelstürmer. Der, der sich zwar ein hohes Ziel setzt und auch danach strebt. Aber auch alle hundert Höhenmeter wieder innehält, um die Aussicht, das bisher Erreichte zu geniessen. Ganz im Gegensatz zum Gipfelstürmer mit demselben hohen Ziel, der aber nicht zurückblickt, weil nur eines für ihn zählt: der Gipfel.
Nun bin ich zwar eine Mischung von beidem, aber weit entfernt von einem weiteren hohen Ziel, der Altersmilde, der Gelassenheit, die mich tieferliegende Ziele anvisieren und mich auch darüber hinwegsehen lässt, wenn ich sie nicht erreiche. Ich mache es mir nach wie vor nicht einfacher. Im Gegenteil: Ich bleibe meiner Unsitte treu, mir zu hohe Ziele zu stecken und mich damit eigentlich immer ein wenig zu übernehmen. Zumindest so lange, bis ich sie erreicht habe. Geht doch.
Dass es nicht einfach wird, unterstreicht unter anderem die Tatsache, dass ich seit rund einem Jahr mit künstlichen Mitteln versuche, meinen Blutdruck an ein Idealmass anzugleichen. Das Mittel sind klitzekleine Pillen zur Senkung des Blutdrucks. Das Idealmass ist 120 zu 80. Verbunden mit dem Eingeständnis, dass ich das ohne nicht schaffe. Dabei ist es aufgrund der Geschehnisse der letzten Jahre nicht so, dass ich nach wie vor glaubte, unsterblich zu sein. Aber das Ewigleben habe ich mir anders vorgestellt. Aber ohne diese Pillchen hat mein Körper, der gerade auf einem Bürostuhl sitzt, das Gefühl, er renne einen Berg hinauf. Blöder Hund.
Und ich denke weiter: «Sonst bin ich doch so durchschnittlich. Mit 171 cm Körpergrösse, mit den Haaren, die mir auf meinem Kopf geblieben sind. Mit knapp 60 Kilo – zugegeben angefressen und schwer zu halten – für mein Alter vielleicht nicht durchschnittlich, aber gut in Schuss.
Und dann kommt Post von «meiner» Partei, mit einem sonderbaren Logo. Ich werde eingeladen. An einen Anlass 60+! Upps. Erwischt. Thema: Wieviel Digitalisierung verträgt das Alter. Seid ihr noch zu retten??? Ich bin zwar kein digital native. Aber das heisst doch nur, dass mein Hirn bereits gewisse Konturen angenommen und ich bereits eine vage Vorstellung von mir hatte, als der Computer mit voller Wucht auf mich traf…! 60plus!!! Und da ist er wieder futsch, mein Moment der Gelassenheit, vorbei der Augenblick des vollkommenen 120/80-Verhältnisses, meine Einseinundsiebzig bäumen sich vor Wut so auf, dass mein Ego durch keinen Türrahmen mehr passt.
Kann mir mal jemand die Luft rauslassen, nur ein wenig? Ach.
Nun ja, alt zu werden ist ein Privileg. Meine 64 Lenze gehen bei mir nicht spurlos vorbei, ich würde lügen, wenn es anderst wäre. 34 Jahre mit unregelmässiger Schicht im dichten Strassenverkehr muss man zuerst mal hinkriegen, ohne dabei gesundheitliche Einbussen zu haben. Darum lasse ich mich mit 64 statt mit 65 vorzeitig pensionieren, der AHV-Überbrückungszuschuss der Stadt Zürich macht dies ohne grossen Einbussen möglich. Gesundheitlich geht es mir soweit gut, brauche zumindest keine Medikamente. Hab zwar ca. 20 Kilo Übergewicht, kann aber gut damit leben.
Mit den digitalen Entwicklungen, die im Schnellzugstempo voraneilen, komme ich IM MOMENT noch klar, aber ich stelle zunehmend fest, dass es mir verleidet, in dieser Angelegenheit stetigen Veränderungen unterworfen zu sein…besonders wenn es um administrative Dinge geht, die heute zumeist online getätigt werden müssen. Ob mit amtlichen Stellen, Online-Shopping oder E-Banking. Der Austausch erfolgt vermehrt über E-Mail. Eine “antike” Telefonnnummer wird immer seltener angegeben, um Fragen in Kürze zu klären. Stattdessen ist man nicht selten gezwungen, per E-Mail zu korrespondieren. Und wenn dazu noch Unklarheiten herrschen, kann dies einen regen E-Mail Wechsel zur Folge haben. Per Telefon werden solche Dinge in drei Minuten authentisch erledigt, ohne sich die Finger wund zu schreiben. Gebe aber zu, dass auch der telefonische Austausch Nachteile haben kann. Unendlich in der Warteschlange mit scheusslicher Musik berieselt zu werden, kann zu einer Tortur werden. Und wenn man endlich mal durchgestellt wird, ist im schlechtesten Fall ein inkompetenter Kundenberater am Draht.
Was meine Hirnleistung/Aufnahmefähigkeit u.s.w. betrifft, sehe ich keine Veränderung, vielmehr betrachte ich mit zunehmenden Alter viele Dinge aus einer gewissen Distanz, ignoriere sie aber nicht. Handelt es sich dabei möglicherweise um die gepriesene Altersweisheit gemäss einem chinesischen Sprichwort: “Nur der Dumme schnattert, der weise Mann hört zu?” Zum Abschluss sei gesagt, dass ich bislang kein Chat-GPT brauche, um mich zu artikulieren. (Auch wenn ich diese künstliche Intelligenz enorm spannend finde.)
In diesem Sinne alles Gute Stefan.