Eigentlich…

Eigentlich haben wir es doch gut. Wenn ich auf dem Balkon stehe, in der Dämmerung, und die Vögel friedlich zwitschern, kann ich mir kaum vorstellen, dass nur ein paar hundert Kilometer von hier Krieg herrscht, Raketen ein- und abertausende in die Flucht schlagen.

Eigentlich haben wir es doch gut. Klar, wir haben es gut. Hier. Andernorts herrscht bittere Armut. Aber auch dort, wo wenig Armut herrscht, gibt es Krieg, im Grossen wie im Kleinen. Und da mir mein Balkon und die paar Vögel reichen, um mich friedlich zu fühlen, fällt es mir umso schwerer zu wissen, dass andere im Krieg leben. Gewiss, nicht alle haben so einen Balkon. Und bestimmt sind die Machthaber dieser Welt in ihren Palästen arme Schweine, bei all dem Reichtum, den sie geniessen. Mir ist nur ein ehemaliger Staatspräsident – José Mujica aus Uruguay – bekannt, der wirklich ziemlich arm dran war, gewollt. Aber er wurde auch nicht wiedergewählt und kam mir immer wie die Ausnahme vor, die die Regel bestätigt. Alle anderen können sich wohl mehr oder weniger alles leisten oder kennen jemanden, der ihnen alles leisten kann.

Warum dann einen Krieg anzetteln? Warum nicht auf der Terrasse stehen und den Vögeln zuhören, sondern andere ins Unglück oder in den Tod stürzen? Denn eigentlich haben wir es alle vielleicht nicht ganz gut, aber immer noch besser, als einen Abzug zu drücken oder in einen Lauf zu sehen.
Es sind ja nicht jene, die im Rollstuhl sitzen, die nicht die Treppen zur Macht hochsteigen können, die sich keinen guten Rechtsbeistand leisten, die nichts sehen oder nicht hören können, die einen Krieg anzetteln

Es sind jene, die nicht ganz bei Trost sind, einsam in ihren Palästen hocken und sich langweilen oder in ihrem eigenen Kosmos kreisen. Unterstützt von jenen, die sich in den Kasernen oder auf den sozialen Medien langweilen, die nur darauf warten, dass einer «Angriff!» schreit. Dann stürzt sich die Meute verbal oder bis an die Zähne bewaffnet auf irgend ein auserkorenes Opfer. Ob verbal oder mit Waffen, das spielt keine Rolle mehr, da wir heute sowieso zu 90 Prozent virtuell sind, in unserer Hirnrinde feststecken, die Wahrheit in Excel-Tabellen hüten und am Ende des Monats zählen, wieviele wir in einer gedachten Rangliste hinter uns gelassen haben.

In den nächsten paar Tagen werde ich meinen Balkon verlassen, mich in eine Grossstadt stürzen, als Gast, und vielleicht jenen begegnen, die unfreiwillig in die Stadt gekommen sind, auf der Suche nach einer Bleibe, zumindest bis sich die Lage beruhigt und der herrschaftliche Anfall gelegt hat.

Bleibt die Frage, warum wir uns am Küchentisch streiten, warum die Unterlegenen ihren Grimm ins Büro oder zur Schule tragen, warum wir «Untergebene» schlecht behandeln, warum wir überhaupt Untergebene haben, warum wir die Faust im Sack machen. Wenn wir es doch gut haben.

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