*(Annehmen nicht im Sinne von mutmassen, sondern im Gegensatz zu ablehnen)
Ich schreibe dies als jemand, dem nicht alle Auftritte abgesagt und damit die Lebensgrundlage entzogen wurde, der nicht im Altersheim eingesperrt, nicht in Kurzarbeit versetzt und dem nicht der Job gekündigt wurde, weil die Aufträge wegbrachen. Ich bin auch nicht als selbständig Erwerbender durch alle Maschen gefallen. Ich hatte also – wie viele andere auch – Glück. Aber eben nicht alle. Dennoch scheint mir, dass man dieser Situation, die COVID-19 geschaffen hat, auch anders begegnen kann als nur mit der Sorge um die finanzielle Zukunft und mit der Wut über Menschen mit Macht, mit der Wut, die manche dazu verleitet, anderen etwas schlechtes nachzusagen oder alles Übel dieser Welt an ihnen festzumachen.
Ich nehme die Situation an. Auch den Umstand, dass sie mir viel mehr Arbeit macht und diese auch noch erschwert. Ich nehme die Situation an, statt sie mit Wut und Vorwürfen von mir zu weisen.
Ich habe gelernt, mit Annahmen zu leben. Mit der Annahme, dass ich ewig lebe, dass ich lange lebe, dass ich bald sterbe und dann wieder nicht so bald. Und ich habe gelernt, nicht nur mit Zukunftsannahmen zu leben, sondern auch mit solchen, die meine Gegenwart betreffen: Mit der Annahme, dass es sicherer ist, bei Grün die Strasse zu überqueren. Mit der Annahme, dass die Epidemiologen recht haben. Dass die Leute vom BAG recht haben. Allein die Annahme, dass es so sein könnte, hat mein Verhalten verändert. Und meine Gedanken und die Themen, um die sie kreisen.
Anstatt der Situation mit Gleichgültigkeit zu begegnen, schaue ich, was sie mit mir macht. Und mit anderen. Füge mich ein Stück weit um zu sehen, ob es sich dann besser oder schlechter anfühlt, lasse mich auf die Veränderung – auch bei meinen Mitmenschen – ein. Stelle fest, wie empfindlich unser «System» doch ist, wie leicht es gekippt werden kann. Stelle fest, wie alles miteinander zusammenhängt und ins Stocken gerät, wenn nur etwas nicht funktioniert, wie stark wir unsere Tage durchgetaktet haben und unsere Zeitpläne nicht mehr eingehalten werden können, wenn auch nur etwas länger dauert, als «normal». Stelle fest, wie nah wir nervlich schon vor dieser Krise am Rand waren, wie wenig mehr es noch brauchte, dass die Leute ihre Dünnhäutigkeit nicht mehr verbergen können. Und ich versuche, ihnen so viel Platz zu geben wie nur irgend möglich. Und viel Aufmerksamkeit.
Anstatt Behauptungen in die Welt zu setzen, stelle ich Fragen. Habe ich recht? Was kann ich tun? Was sollte ich lassen? Mache ich es richtig und auch dir recht? Sind wir es wert? Haben wir es übertrieben? Die Frage ist nicht, ob die Menschen mit oder an COVID-19 sterben. Denn mit oder trotz all unserem Wissen sterben wir als Menschheit höchstwahrscheinlich einfach an Dummheit. An der Dummheit, es besser gewusst zu haben, ohne dieses Wissen zu nutzen. An der Dummheit, durch unsere Vernunft nicht vorsichtiger, umsichtiger, weitsichtiger geworden zu sein. Und an der Dummheit, den Moment nicht für besseres genutzt zu haben.
Aber ich nehme – abermals – an, dass sich doch noch Lösungen für die Folgen unserer Verschwendung, unserer Verblendung und anderer Unzulänglichkeiten finden lassen – eine Annahme, die mich abends die Augen schliessen lässt mit der Idee, dass es ein Morgen gibt.