Es ist schon interessant: Seit Jahren vertrete ich die Meinung, Kultur sei nicht nice to have. Ich wurde dafür von vielen, wenn auch nicht von allen Seiten belächelt. Was will der jetzt mit Kulturpolitik, wo doch gerade die Bildung den Bach runter geht? Sieht er nicht, dass wir uns gerade mit einem dummen Rüstungspaket beschäftigen? Warum sagt er, Finanzpolitik gebe es eigentlich gar nicht, denn die Finanzen seien nur dafür da, alles andere zu finanzieren? Wie kann er sich nur für Kultur stark machen, wo es doch gerade im sozialen Bereich so viele Probleme gibt?
Ideen wie ein Kulturstreik (inkl. Kinos und Restaurants) wurden nicht nur belächelt, sondern sogar als dumm erachtet: Es würde kein Hahn danach krähen, wenn Kultur mal nicht stattfände. Und nun?
Alles ist zu. Die Leute fühlen sich scheisse, vermissen den Kulturbetrieb und das nicht nur, weil sie ihre Zeit nicht mit Arbeit totschlagen können. Und auch nicht nur, weil die einzigen Resultate jene der international Infizierten und leider Verstrobenen sind, die wie Ranglisten oder Hitparaden fast stündlich aktualisiert werden und einfach nur deprimieren.
Blocher sagt, das Volk murre. Ein anderer, der es wissen muss, meint, wir stünden vor dem Untergang der Musik-Industrie. Ein Grossveranstalter spricht davon, dass es zu Unruhen käme, würden die Festivals für ein ganzes Jahr ausgesetzt. Die Leute sehnen sich nach kulturellen Plattformen um sich wieder zu treffen…
Wie war das mit nice to have? Excel-Tabellen ausfüllen oder Nägel einschlagen ist einfach nicht genug und schon gar nicht das Wichtigste? Und irgendwann ist auch der letzte heimische Garten zu Tode perfektioniert, der letzte Bonsai gestutzt und das letzte Büchergestell nach Farben geordnet. Das reicht nicht. Die Gesellschaft findet einfach nicht statt. Nur Einzelkämpfer und Innen an den heimischen Home-Office-Bildschirmen, in Video-Chats und abends bei der Kultur-Ersatz-Kultur auf Youtube. Kunstpause im Opernhaus, niemand da, mit dem man mit einem Negroni auf bessere Zeiten anstossen könnte. Kein Stimmengewirr, keine fetten Bässe in der kollektiven Magengrube, keine Überwältung, wie wenn man vor einem gigantischen Gertsch stünde und auch kein Dorffest, das einem ein Wiedersehen mit Gross und Klein böte. Einfach keine Nice-to-have-Kultur weit und breit.
Das andere, was ich fast schon mantraartig und ebenso erfolglos wiederholte, war die Idee, dass Kultur-Institutionen, aber auch Freischaffende vermehrt mit ihrem Publikum kommunizieren, Oberfläche zeigen und Institutionen sich gegenseitig featuren. Dies, angesichts der bei der Kultur seit jeher knappen finanziellen Ressourcen, auf digitalem Weg, mit spannenden Newsletters, tollen Beiträgen auf den Social Medias und draussen auf der Gasse. Nicht nötig. Überflüssig. Interessiert doch keinen. Wir drucken das Programm und schicken es raus, damit hat es sich…
Und nun? Eine Flut von Ersatz-Kulturbeiträgen um ein Lebenszeichen von sich zu geben, um das Publikum bei Laune zu halten, ihm für seine Treue zu danken, um trotzdem etwas zu produzieren, von dem man hofft, dass es ein Publikum findet. Na also: Geht doch.
Obwohl ich bei beiden Ansätzen ahnte, dass ich nicht auf dem falschen Dampfer war, erstaunt mich nun doch, wie schnell a) die Kulturschaffenden plötzlich bereit sind, aus allen Rohren zu kulturieren und b) wie schnell wir uns als Gesellschaft ausgehungert fühlen. Und uns dies sogar dazu verleitet, die getroffenen Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus als extrem zu betrachten, als übertrieben. Und wir bereits nach wenigen Wochen – möglicherweise sehr unvernünftig – fordern, die Verordnung möge doch wieder gelockert oder gar aufgehoben werden.
Es erstaunt mich. Aber ich kann es nachfühlen, denn Hand aufs Herz: Ohne die Produktion und Präsentation von und die Auseinandersetzung mit vermeintlich nutzlosen Dingen wie Bildern & Ausstellungen, Songs & Konzerten, Drinks & Diskussionen, Sägemehl & flotten Schwüngen, Büchern & Lesungen, ohne Kultur sind wir keine Gesellschaft, sondern nur ein Volk von Ameisen, das seinen Weg zwischen Schlafplatz und Abbaustelle mal mehr, mal weniger findet.
Ich vermisse euch.