Wir leben in einer Demokratie, werden nicht an Leib und Seele verfolgt. Unsere Regale sind in der Regel voll, unsere Kühlschränke prall gefüllt. Wir verfügen über ein grandios leistungsfähiges Gesundheitssystem und leisten uns die entsprechenden Krankenkassenprämien. Und unsere Bildung ist punkto wirtschaftlicher Effizienz weit fortgeschritten. Wir sind sicher.
Und jetzt kommst du, winziger Virus, und bringst alles zum Einsturz, zeigst uns, wie misstrauisch wir der erlangten Sicherheit begegnen, wie fragil unser Vertrauen in unsere Errungenschaften ist, wie klein wir doch selbst sind, in unserem Innersten.
Die Hamsterkäufe zeigen es. Das mit dem Toilettenpapier muss mir – wenn alles vorbei ist – mal jemand erklären. Dieses Verhalten zeitigt noch etwas anderes: Wie gering die Solidarität in dieser Gesellschaft ist. Nicht in allen Gegenden, nicht in allen Schichten. Und ja: Wenn ich eine grosse Karre und eine dicke Brieftasche habe, warum soll ich dann meinen SUV nicht füllen?
Inwiefern haben wir uns denn weiterentwickelt, wenn wir bei der erstbesten Gelegenheit alles in unsere Höhle zerren, was wir kriegen können?
Gut, die allermeisten von uns haben in ihrem ganzen Leben keine echte Krisensituation erlebt. Wie sollten wir auch damit umgehen können? Und wie sollten wir die Gefährlichkeit von Corona richtig einordnen können, wenn zum Beispiel Beda Stadler (emerierter Professor und ehemaliger Direktor des Instituts für Immunologie der Universität Bern) Anfang März im Farbfernsehen sagt, allein in den ersten zwei Monaten des Jahres seien in der Schweiz 90’000 Menschen am altbekannten Grippe-Virus erkrankt (und bis dahin etwa 2000 daran gestorben)? Noch Besorgnis erregendere Zahlen findet man auf CNBC (19 Mio. an Grippe Erkrankte, davon 180’000 hospitalisiert und bereits 10’000 Tote allein in den USA). Absurderweise erreicht die Zahl der Corona-Meldungen online offenbar die Milliardengrenze, wogegen die Grippe-News regelrecht gesucht werden müssen. Wie sollen wir das verstehen? Wie sollen wir – wir sind via News-Ticker zum ersten Mal «live» bei einer Katastrophe solchen Ausmasses dabei – das richtig gewichten? Wie sollen wir unser eigenes Leben in das grosse Ganze einordnen, wenn wir uns nie zuvor oder höchstens mal in der Pubertät – da aber mit noch nicht ausgereiftem Frontallappi – wirklich tiefgreifende Gedanken dazu gemacht haben?
Ich hatte selbst Mühe damit, zumal die letzten drei Wochen vor meiner Kontroll-Untersuchung eher von meiner Grundangst, wieder an Krebs erkrankt zu sein, geprägt waren. Ich gebe zu, dass dieses Gefühl Corona und alles andere in den Hintergrund verdrängt hat. Auch war ich in den Monaten zuvor heilfroh, dass ich so viel Arbeit, noch dazu sinnerfüllte Arbeit, zu erledigen hatte. Vielleicht kann ich zur Verteidigung meines eigenen kleinkarierten Egoismus anführen, dass ich die Möglichkeit eines erneuten Befundes als weitaus realistischere Bedrohung empfand.
Aber auch jetzt fällt es mir schwer, die Geschehnisse richtig einzuordnen. Zu viele Ungereimtheiten treten zu Tage. Warum hat es so lange gedauert, bis der Mensch und seine Gesundheit in der Corona-Berichterstattung endlich an erster Stelle stand? Noch fünf Tage vor dem Lockdown lautete die Reihenfolge in den Nachrichten > Corona-Börsenkrise > Corona-KMU-Krise > Corona-Kleinschwätzer Trump … und erst dann kamen die Menschen und die auch nur als möglicher Faktor für einen etwaigen Zusammenbruch des Gesundheitssystems. Warum wird beispielsweise die ganze Wirtschaft heruntergefahren, der Handel mit den sie representierenden Wertpapieren aber nicht eingestellt? Warum werden Masken, wenn sie doch helfen und tatsächlich in genügender Zahl vorhanden sein sollen, nicht an die Bevölkerung verteilt? Warum reagieren wir in dieser Krise so, als hätten wir in guten Zeiten nicht alles dafür getan, dass wir auch eine Krise überstehen? Geht es uns als Gesellschaft etwa so wie mir, als ich nach meinem Befund vor drei Jahren meine kindliche Idee von meiner Unsterblichkeit in der Luft explodieren sah?
Aber das sind eigentlich nur Details. Wir sollten das Ganze in Frage stellen. Den Wert unserer Zeit auf diesem Boden. Den Wert unserer Zeit an unseren Schreibtischen. Den Wert unserer Kraft, die wir in unsere Projekte stecken. Ja, selbst unsere Projekte sollten wir hinterfragen. Sind es unsere Projekte?
Stillen sie unser Grundbedürfnis nach Sicherheit? Aber vielleicht sollten wir uns vor allem über zwei Themen Gedanken machen: Zum einen über das Undenkbare und warum wir wollen, dass es undenkbar bleibt. Und zum anderen darüber, ob und – wenn ja – wen wir lieben.