Ich gehe weite Wege. Hauptsächlich in Gedanken. Die Tatsache einer angepissten Blase engt den Bewegungsradius in der «Wirklichkeit» deutlich ein. Und der Weg zu einer sinnvollen, weil sich gut anfühlenden Antwort auf die Frage «Was brauche ich?» führt zur Zeit leider nur über das indirekte «Was ich nicht mehr brauche», welches sich von Situation zu Situation jeweils blitzartig einstellt. So soll es denn sein: nach dem Ausschlussverfahren …
Was ich nicht mehr brauche? Situationen, die mich stressen. Früher kannte ich zwar viel Arbeit, aber kaum Stress. Heute stresst mich schon, wenn mir jemand zwei Kleider hinhält und mich fragt, welches mir besser gefällt. Da ich nicht der Träger sein werde, geht mir die Frage irgendwie am Arsch vorbei, spüre aber, dass mein ratloser Rat gefragt ist.
Situationen, die mich stressen: Diskussionen, in denen es bloss darum geht, wer den Längeren hat. In denen zwar dauernd an die Logik apeliert wird, diese aber schrecklich vermissen lassen.
Überhaupt: Logik, was soll das sein? Und welchen anderen Zweck hat sie, ausser die gefühlsmässig längst getroffenen Entscheidungen mit Argumenten zu untermauern? Wen muss ich noch überzeugen? Immer noch? Nach all den Jahren wirkungsvoller Arbeit und folgenreichen Nachdenkens? Schattenboxen. Energieverschwendung. Politisch wie privat.
Seit meiner Erkrankung bin ich sehr dünnhäutig geworden, werde schnell deutlich, sowohl auf die freundliche, als auch auf die unerfreuliche Art. Geduld? Ist mir nach der vierten Vollnarkose abhanden gekommen. Geduld? Wozu? So viel Zeit bliebe mir auch dann nicht, wenn ich 100 Jahre alt würde.
Und ausgerechnet in diesem Gemütszustand muss ich weite Wege gehen um herauszufinden, was noch in mein Leben gehört, und was ich getrost zu den Altlasten legen und entsorgen kann. Also doch Geduld.
Rückblickend erscheint mir viel, zu dem ich mal ja gesagt habe, nicht wie ein Kompromiss, sondern kompromittierend. Was hat es mir denn am Ende gebracht, wenn ich jeweils gedacht habe, jemand käme später schon zur Vernunft oder würde gar auf sein Herz hören? Heute regieren Marktforschung und Excel-Tabellisten. Das Herz verkümmert oder wird zur klaffenden, brennenden Wunde.
Gut, es gibt Abende, die mir klar zeigen, was ich brauche: Piazza Grande in Locarno, Sting spielt auf, als hätten sich Police nie getrennt. Volle Power. Voller Freude. Gregory sagt, er hätte Sting und Bowie und Queen noch nie live gesehen. Plötzlich stimmt der Sohn von Sting «Major Tom» von Bowie an. Und wie. Und eine Stunde später läuft Queen in der Bar ein paar Häuser weiter, als wäre es live. Ja, manchmal kann das Leben an einem einzigen Abend so viel bereit halten.
DAS ist es, wonach es riechen sollte! Wie es sich anfühlen sollte. Echt. Direkt. Auf der Heimfahrt heute sass mir ein junges Paar gegenüber. Die beiden unterhielten sich lebhaft. Kurz bevor sie ausstiegen, schnappte ich folgenden Satz von ihr auf: «Man müsste mal einen Job haben, bei dem man sagen kann, was man denkt.» Um Himmelswillen! In was für einer Welt leben wir denn? Sind unsere Gedanken so schlimm, dass wir sie nicht mehr laut sagen können? Oder ist es um das Selbstbewusstsein unserer Vorgesetzten so schlecht bestellt, dass diese innerlich zusammenbrächen, würden sie mit unserem wahren Ich konfrontiert? Wenn dem so ist und das so weitergeht, tun mir die nachfolgenden Generationen leid. Ich hatte wenigstens noch ein paar Jahre, in denen meine Meinung, in denen ICH gefragt war. Und ich wünsche das jedem Menschen hier und anderswo.
Schreibe ein Buch
– Hirngespinnste Gedankenbrösmelchen und Tieftauchträume –
Kunterbuntes und sonstige Töne
Ich glaube Du hast da viel zu geben
Du kannst da nicht einfach nur für ein paar Freunde so wertvoll die Feder führen
Eh oui .
Liebe Svenja,
danke für die Ermunterung. In der Tat ist es mir eine Ehre und Freude, «nur» für meine Freundinnen und Freunde zu schreiben. Weil sie es mir wert sind 🙂
Mein Thema «Gib und fordere alles» nimmt allmählich Form an.
Alles Liebe, Stefan
Danke Stefan. Wir haben uns persönlich erst einmal kurz getroffen sind auch erst seit kurzem „Facebookfreunde“ aber durch meinen, vor rund vier Monaten diagnostizierten Lungenkrebs, der darauf folgenden Chemo und der nun erfolgten (hoffentlich) erfolgreichen Operation sind wir uns thematisch grade ziemlich nahe. Du hast mir in meiner Chemozeit zwar öfters auch Angst, unterm Strich aber mehr Mut gemacht als meine Psycho-Onkologie-Tante und ich möchte dir danke sagen für deinen Mut und deine Arbeit die du hier geleistet hast. Du hast mir damit genau zur richtigen Zeit enorm viel geholfen und auch ich bin nun in der Phase der Evaluation (was hat sich verändert, wo ist das Leben für mich am pursten, worüber mag ich am lautesten lachen…). Von ganzem Herzen nochmal tausend Dank und vielleicht ja bald auch mal im RL 🙂 Liebe Grüsse, Patrick
Lieber Patrick,
herzlichen Dank für deine Zeilen, die Zeilen eines «Überlebenden». Ich wünsche dir nicht nur eine erstarkende Gesundheit, sondern auch die Kraft, diese Phase des Ausmistens, der Fokussierung auf dein Wesentliches, liebevoll durchzuziehen.
Manchmal frage ich mich, warum es bei mir überhaupt erst diese Diagnose gebraucht hat, damit ich meine Werte nochmals überprüfe. Aber vielleicht ist dies der berühmte Hund, der sich in den Schwanz beisst.
Wir mussten etwas Unwiederbringliches von uns hergeben. Und wahrscheinlich hattest du auch den einen oder anderen Bettnachbarn, den du dabei beobachten konntest oder musstest, wie er mit einer vielleicht ähnlich ernsten Situation umging. Mich hat das Erlebte letztlich dazu bewogen, mich mit ein paar Zeilen an eine «Öffentlichkeit» zu wenden. Es ist unglaublich, was wir alles wegstecken. Und noch unfassbarer ist dabei der Anteil an Dingen, die wir überhaupt nicht wegstecken müssten. Und eigentlich auch nicht können.
Letztlich ist niemandem gedient, wenn wir nicht authentisch, nicht unmittelbar sind. Und damit sind wir beim wahren Leben angelangt: Es ist gut möglich, dass wir uns demnächst über den Weg laufen. Bis dahin … einatmen, ausatmen, durchatmen 🙂
May the juice be with you! Liebe Grüsse | Stefan