Ich glaube an Zufälle, daran, dass es darauf ankommt, wo man steht, wenn etwas runterfällt. So geschehen kürzlich, als ich Anna Millers beklemmende Republik-Serie über unseren Umgang mit mobile devices oder vielmehr mit unserer Sucht nach ihnen zu lesen begann. Fast gleichzeitig bestellte ich – wie zuletzt immer öfter online – Anna Wieners «Code kaputt», da ich Ferien vor Augen hatte und für die ruhigen Momente, in denen weder ein Crashkurs in Apnoetauchen noch das Erklimmen eines Bergrestaurants anstand, etwas zur Zerstreuung dabei haben wollte.
Beide Autorinnen sind offensichtlich deutlich jünger als ich. So wundern sie sich beispielsweise nicht besonders über den Umstand, dass Millionen von Menschen täglich aller Welt über sich und ihr manchmal belangloses Befinden berichten; umso mehr aber wundert es sie, dass es noch Menschen gibt, die Musik über die Stereoanlage geniessen, ganze Alben anhören und deren Playlists bestenfalls in Form von Mixtapes auf analogen Musik-Cassetten existieren.
Beide Autorinnen widmen sich intensiv und bildgewaltig (das ist ein Kompliment, imFall!) mit dem Thema der menschlichen Digitalisierung, zwar aus verschiedenen Perspektiven – da die meist männlichen Urheber, dort die Userinnnen und User – aber mit demselben ironischen bis entsetzten Unterton. Das kann kein Zufall sein. Oder eben einer im eigentlichen Sinn. Mich beschäftigt das Bildschirmstarren schon lange, habe mich selbst ein paar Jahre darum bemüht, ein Profil von mir und selbstverständlich nur von meiner Schokoladenseite zu pflegen. Doch seit längerem verwaist mein Profil immer mehr und meine sogenannte Bildschirmzeit sinkt (zur Zeit 21 Minuten) allmählich gegen Null. Wen möchte ich denn erreichen? Was sagen wir uns eigentlich? Wen interessiert ’s? Wenn es so weiterginge, stünden auf den in die Zukunft gedachten Timelines wohl in wenigen Jahren nur noch: «Ich bin einsam.» «Ich bin allein.» «Ich bin ratlos.» «Ich habe Angst.» «Ich möchte wieder mal herzhaft lachen.» Eine trübe Aussicht. Und kein Vergleich damit, sich einfach in den Armen zu liegen. Doch wen interessiert das?
Es ist durchaus so, dass ich eine gewisse Affinität zu Technik, zu Computern im Speziellen habe. Dennoch staune ich darüber, wie sich die Welt verändert hat. Mehr noch: wie sich die Einstellung einer Gesellschaft zur Technologie verändert hat! Für jeden Scheiss lädt man sich eine App herunter, lässt sich mit Push-Nachrichten auf Uninteressantes aufmerksam machen. Und immer mehr werden unsere Devices zu einer Selbstbeschäftigung.
Mein erster eigener Computer war 1986 ein Atari 1040ST. Ich hatte ihn im Tonstudio stehen und nutzte ihn als Sequenzer, täglich. Dann, 1990, kam ein Mac Classic dazu, als Schreibmaschinenersatz und Vorstufe für künftigen Computersatz bzw. DTP. Von da an habe ich mich sowohl hard- als auch software-seitig mit Updates herumgeschlagen und tapfer dazugelernt. Vielleicht rührt daher meine wohl etwas verschobene Art, mit Dingen umzugehen und ihnen eine Aufgabe zuzuschreiben: Autos sind Transportmittel, Computer eben Musikmaschinen, Schreibmaschinen und Grafikplattformen… und die Musik kommt von Vinyl oder ab CD und nicht aus dem Airpidpadpod und zwei kümmerlichen Ohrwürmern, sondern von einer grossartigen Stereoanlage. Zu oft hatte ich Stunden im Studio zugebracht, um einen liebevoll eingespielten Shaker im Mix ganz crisp im Panorama zu platzieren, als dass ich ihn anschliessend in die mp3-Mangel hätte nehmen wollen. Aber wen interessiert ’s?
Mitte der 90er-Jahre startete ich tagebuch.ch als fiktives Tagebuch eines frei erfundenen Nerds, der tagtäglich von sich und seinen Freunden erzählte und dann und wann auch IRL an Veranstaltungen auftauchte, was extrem spannend war, weil ich mich zwar ankündigte, aber nicht auffliegen wollte. Alles lange vor dem virtuellen Netzwerk, das alles hassen und mehr als ein Jahrzehnt bevor die ersten css-Vorlagen oder WORTQUETSCH erfunden wurden. Alles in html-Programmierung. Selbstverständlich hatte ich mir auch Gedanken darüber gemacht, wie ich Menschen auf die Website aufmerksam machen konnte. Ich produzierte Miniflyer, die ich auf verschiedenen Strecken im Zug liegen liess, manchmal sogar mit persönlichen Notizen oder Einkaufslisten auf der Rückseite, damit es zufälliger wirkte. Ich brachte es innerhalb weniger Monate immerhin auf etwa 10’000 Seitenaufrufe pro Woche. Und einen Artikel im Tages-Anzeiger Magazin. Und als ich längst nicht mehr alles selber schrieb, hatte ich auch noch Zeit, mich als PAT.RIOT in einem side project mit Ewiggestrigen und Neonazis einen verbalen Schlagabtausch zu liefern. Aber irgendwann einmal fragte ich mich: Wen interessiert ’s?
Die Frage nach der Relevanz – und damit sind nicht SEO-optimierte Websites gemeint – bleibt: Wofür tun wir das alles? Wem nützt es? Fühlt sich deshalb irgend jemand ausserhalb von Marketing-Welt und Big Data besser? Womit ich wieder beim ursprünglichen Thema bin: «Code kaputt» von Anna Wiener und die Serie «Im digitalen Rausch» von Anna Miller sind Hammer-Beiträge zur aktuellen Situation. Sie führen auch mir als nichtsüchtigen Mobile-Besitzer vor Augen, dass mein Leben noch Optimierungspotenzial hat. Nämlich off-line.
Aber wen interessiert ’s?