Was vermisse ich denn?

Sie werden mehr. Mit «Sie» meine ich die Menschen, die gegen die Corona-Massnahmen demonstrieren. Und mit diesem «Sie» grenze ich mich auch gleich ganz klar ab. Ich zähle mich nicht zu ihnen. Obgleich ich auch unter den Massnahmen leide. Wobei «leiden» schon viel zu drastisch ausgedrückt ist. Klagen auf hohem Niveau. First world problems! Weil ich mir auch in dieser Situation leisten kann, wovon andere auch in nicht besonderen Lagen nur träumen können. So komme ich eben von einem Hotel-Wochenende im Rigiblick zurück. Einmal nicht einkaufen und kochen müssen, dafür einmal bedient und kulinarisch überrascht werden und nicht über solche Dinge nachdenken müssen. Stattdessen darüber nachdenken, was ich denn wirklich vermisse.

Zum Beispiel die Treffen mit Menschen, die ich wirklich mag und spannend finde. Eigentlich vermisse ich nur die Menschen, die Begegnungen. Gut, ich vermisse auch die Möglichkeit, in einem Film oder einem Theater zu sitzen und mich überraschen oder einfach nur unterhalten zu lassen. Das sage ich als einer, der eigentlich nicht viel Gesellschaft braucht und sich auch selber gut zu unterhalten weiss. Schon in der schulischen Gesangsstunde, als ich ebenso unerwünscht wie chronisch die zweite Stimme im sonst so einfältig monotonen Gesinge beisteuerte, kommentierte dies der Lehrer mit «Bébé s’amuse?». Ja, es hat mich amüsiert.

Also, was vermisse ich wirklich? Da ist im Weiteren das Feedback auf meine sinnhafte Aufgabe in der Arbeitswelt. Ich habe lange genug danach gesucht, musste erst ein äusserst gut und schliesslich fürstlich bezahlter Werber werden, bis ich einsehen durfte, dass es das nicht sein konnte. Ich schraubte meine monetären Ansprüche und mein Bedürfnis nach dem geilen Schein auf ein nachhaltiges Mass zurück und begann, für den gemeinnützigen Wohnbau zu arbeiten. Als kleines, aber aufmerksames Rädchen in einem Riesengetriebe. Sinnhaftigkeit und spannendes Wirkungsfeld wiedergefunden, soweit alles wunderbar. Doch seit dem ersten Lockdown, seit Homeoffice und Zoom-Meetings habe ich den Faden oder zumindest das, was meine Sensoren als Feedback wahrnehmen können, Stück für Stück verloren. Mit jedem weiteren Tag wird die Aufgabe abstrakter, weil der Kontakt zu den Menschen, die günstigen Wohnraum brauchen und jenen, die ihn bereitsstellen, immer abstrakter wird.

Was vermisse ich noch? Anstand! In der Politik war es damit zwar schon vor Corona nicht weit her. Doch der sich verschärfende Ton hat auf mediale Kommentarspalten und ehemals soziale Medien abgefärbt. Heute scheinen wir ein Land zu sein, in dem offenbar alle 8 Mio. ehemaligen Nati-Trainer nun plötzlich hoch spezialisierte Epidemiologen und Innen sind, noch dazu  voll motiviert, irgend jemandem auf die Kappe zu scheissen, als hätten wir keine Ehrverletzungsklagen zu fürchten. Jeder noch so kleine Widerspruch, auch die kleinste Unsicherheit oder vage Antwort wird von beissenden Kommentaren begleitet. Und dies – so scheint es mir – nicht etwa, weil wir es besser wissen. Sondern weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Zum Beispiel, dass wir durch irgend etwas in unserem Egoismus eingeschränkt werden.  Da schickt sich eine ganze Gesellschaft mehrere Jahrzehnte lang an, alles zu akademisieren um PISA-Klassenbeste zu werden und redet am Ende «so klug als wie zuvor», wenn nicht noch dümmer daher.

Was vermisse ich noch? Gefühle wie Zuversicht und Begeisterung! «Es kommt gut!», «Ich habe eine tolle Idee, machst du mit?» oder «Wow, das ist grossartig, danke, dass du das machst!»… wann habe ich so etwas letzthin gehört? Gedanken, die mich zum Fliegen bringen, die sich wie Rückenwind anfühlen, sie scheinen eine halbe Ewigkeit weit weg zu sein. Darum frage ich mich, ob ich mich schon länger im falschen Umfeld bewege. Oder mich selber zu wenig bewege. Als hätte ich zugelassen, dass die Corona-Massnahmen alle meine emotionalen Höhen kappen. Und mich in einer trägen, gleichmässigen Eintönigkeit einsülzen.

Mit anderen Worten: Ich vermisse nicht primär Gelegenheiten wie Konzerte und Lukullisches, sondern Eigenschaften: Ideenreichtum, Übermut, Leichtigkeit und Zuversicht – Eigenschaften, die zu selbst kreierten Höhenflügen führen. Und ich vermisse Eigenschaften, die es erträglicher machten, falls die Höhenflüge noch länger ausbleiben: Demut und Ausdauer, Flexibilität und Aufmerksamkeit allem gegenüber.

Aber erst einmal – ganz bescheiden: Ich wünsche uns allen mehr Sauerstoff. Das hilft beim Nachdenken.

Share

2 Gedanken zu „Was vermisse ich denn?“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert