Kultur, die Summe unseres Seins

Das klingt vermessener, als es ist. Als käme jetzt eine verklärte Hymne auf Opernhäuser und andere Inszenierungen. Aber nein. Ich sehe das ganz grundsätzlich, ganz pragmatisch: Es gehört zu unserer Kultur, dass viele von uns am Sonntagmorgen zur Kirche gehen und am Nachmittag in den Schützenverein. Es gehört zu unserer Kultur, hier Waffen zu bauen und zu verkaufen und dort – an Benefiz-Veranstaltungen – das Portemonnaie aufzumachen für die Flüchtlinge dieser Welt. Auch ist es einfach ein Teil unserer Gesprächskultur, anderen ins Wort zu fallen, wenn man «jetzt endlich auch einmal gehört werden» möchte oder andere darauf hinweisen will, was Anstand eigentlich ist.

Es ist Teil unserer Willkommenskultur, dass Vertrauen erst einmal verdient werden muss und nicht als Vorschuss zu haben ist, der eventuell verspielt oder eben vermehrt werden kann. Dass hier überhaupt etwas vermehrt – im Sinne von Wachstum – werden muss, damit es mental für alle reicht, ohne dass jemand die Unterbrechung der seelischen Nahrungskette nur schon befürchten muss, dass also «Stillstand ist Rückschritt» als Leitsatz unsere Kultur wesentlich beeinflusst, ist zwar traurig, aber einfach nur wahr. Genauso wie die Tatsache, dass wir Nutzenoptimierte auch ganz gewaltig über die Stränge schlagen und sinnentleerte Dinge tun können wie beispielsweise für überdimensionale Ballonhunde oder in Formaldehyd eingelegte Haie auf dem Kunstmarkt Millionen zu zahlen.
Wobei: nichts gegen Hirst. Seine Pillenvitrinen geben mir jeden Tag zu denken, seit ich selbst eine Vielzahl von Präparaten zu mir nehmen muss.

Auch gehört es auch zu unserer Kultur, dass wir Dinge beim falschen Namen nennen: «Leistungsgesellschaft» suggeriert beispielsweise, dass sich Leistung lohnt. Wobei es sich a) um ganz bestimmte Leistungen handelt, die honoriert werden und b) die grössten Honorare seit den 80ern dann ausbezahlt werden, wenn jemand nichts oder nicht mehr tut als zweimal «Enter» zu drücken – bei Kaufen und Verkaufen an der Online-Börse. Auch das Wort «Toleranz» taucht meist dann auf, wenn es gerade am meisten an ihr mangelt. Dabei ist gerade das höchst erstaunliche Nebeneinander verschiedener Lebensauffassungen das, was unser Leben bereichert, nämlich dann, wenn wir es schaffen, auf die Gemeinsamkeiten zu fokussieren statt auf die Differenzen. Auch «Globalisierung» klang wie ein Ausdruck weltweiter Erlösung. Aber man kann nicht ständig nur Gewinne importieren ohne zwangsläufig auch deren Opfer auf den Plan zu rufen.

Wir sind ein verschrobenes, verschoben-verrücktes Kulturland, und das nicht erst seit der Kulturland-Initiative, welche übrigens ein Anliegen der Grünen war, nicht der Bauernpartei.
So gehört es zu unserem Kulturverständnis, dass wir mehr in Überwachungskameras investieren, als in Filmkameras, dass für das Stopfen eines Lochs im Asphalt schneller mehr Mittel zur Verfügung stehen, als für die Reparatur der Risse durch eine Gesellschaft, dass im Finanz- und Sicherheitsbereich mehr neue Stellen geschaffen werden als bei der Kultur, dass wir nicht Zeichnen, Singen und Tanzen, sondern primär Schreiben und Rechnen «Kulturtechniken» nennen und in der Bildung viel wichtigeres wie das Erlernen einer Streitkultur sträflich vernachlässigen, mehr noch: durch die Gewichtung des einen und die Leichtabfertigung des anderen unseren Kindern eine klare Wertung mit auf den Weg geben: Das müsst ihr können, alles andere ist nice to have.

Dies alles ist Teil und Ausdruck unserer Kultur. Das und noch mehr, von dem es viel zu wenig gibt: Dorffeste, immer und immer wieder, bis wir uns alle kennen und darüber hinaus. Ausstellungen, so oft und so lange, bis sich jeder Laie, jeder Profi einmal zeigen konnte. Konzerte, an denen uns vor Freude die Ohren wackeln. Theaterstücke, von denen wir zuvor nicht wussten, wie sehr sie uns zum Reflektieren anregen würden. Filmnächte, an die wir uns am nächsten Morgen mit Lachmuskelkater erinnern und Tanzfestivals, die uns einfach nur verzaubern. Museen, die uns die Augen öffnen und wir sie nie wieder vor etwas verschliessen wollen. Und, und, und.
Vor allem aber brauchen wir einen Alltag, der reich an kunstvollen Erlebnissen und kulturellen Begegnungen ist. Dann können wir das ganze umdrehen, in eine Richtung, in die wir alle gerne gehen.

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Ein Gedanke zu „Kultur, die Summe unseres Seins“

  1. Einmal mehr, lieber Stefan, einfach gescheit und wahr und: Danke für deine Gedanken. Sie geben zu denken und alle Kulturschaffenden freuen sich, wenn du damit anregst😍

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